Zum Umgang mit Aggression in der Öffentlichkeit

Gestern Nachmittag, Schönhauser Allee, direkt vor dem Einkaufszentrum. Ein Mann um die 30, hellbrauner Mantel, groß, breitschultrig, gepflegt, brüllt auf eine kleine, unscheinbare Frau ein: „Du kommst jetzt mit hab ich gesagt!“ Sie schüttelt den Kopf, geht einen Schritt weg von ihm, er zieht sie am Ärmel, schlägt sie mit einer zusammengerollten Zeitung, brüllt weiter. Menschen laufen an ihnen vorbei, einige drehen sich nach ihnen um, andere stehen praktisch direkt daneben an der roten Fußgängerampel und tuen so, als würden sie nichts bemerken. Ich stehe auf der anderen Straßenseite, will hinüber und denke hektisch darüber nach, was ich tun soll. Als ob es da etwas zu überlegen gäbe – entweder man interveniert selbst oder man ruft die Polizei.
Aber so einfach ist es eben doch nicht. Von einem direkten Eingreifen hält viele schon die Angst, selbst zum Opfer zu werden, zurück. Genauso schlimm scheint mir aber die Angst zu sein, etwas falsch zu machen, sich zu blamieren, weil man sich in Dinge reinhängt, die einen nichts angehen und die man nicht versteht. Man will sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Am Ende hüpfen womöglich Paola und Kurt Felix mit der versteckten Kamera aus dem Gebüsch! Und dann sieht man noch einen anderen, der sich ebenfalls nicht einmischt und denkt sich, dass der schon seine Gründen haben und die Situation richtig beurteilen wird. Und der andere … denkt das gleiche.
Ich glaube nicht, dass den Passanten, die an der Szene vorbeigelaufen sind, wirklich gleichgültig war, was dort passierte. Bestimmt haben viele von ihnen am Abend neben den schönen Dingen aus den Schönhauser-Allee-Arcaden noch eine große Tüte schlechtes Gewissen mit nach Hause gebracht.

 

Vor zwei oder drei Jahren stand ich mal mit anderen Passanten an der Danziger Straße ebenfalls an einer Fußgängerampel, als hinter uns Streit ausbrach. Eine Frau war aus einer Kneipe geflohen, ein Mann ihr hinterher. Er packte sie und brüllte sie an, er schlug sie und versuchte, sie zurückzuzerren. Die meisten Leute neben mir starrten krampfhaft auf die Straße und ignorierten den Vorfall. Ich drehte mich um, schaute dann auch schnell wieder weg, hoffte, schnell über die Straße und weg zu kommen … und dann ging ich doch hin und sagte dem Typen, er solle die Frau in Ruhe lassen.
Das war keine besondere Heldentat – der Mann war Mitte 50, vollkommen betrunken und definitiv nicht von furchteinflößender Statur. Trotzdem hatte ich große Angst überwinden müssen – die Angst vor einem Fettnäpfchen, nicht vor einer Schlägerei. Komisch eigentlich.
Kaum hatte ich mich eingemischt, kamen noch vier Leute, die eben noch scheinbar unbeteiligt an der Straße gestanden hatten. Zwei Frauen kümmerten sich um das Opfer, die Männer bauten sich mit mir vor dem Idioten auf. Nachdem ich die (eingebildete) Gefahr, mich irgendwie lächerlich zu machen, auf mich genommen und damit für die anderen größtenteils gebannt hatte, schienen sie sehr froh, helfen zu können, und nicht mit schlechtem Gewissen davonhuschen zu müssen.

Zurück zu gestern: Die Fußgängerampel schaltete auf grün und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Dummerweise war der Typ körperlich das genaue Gegenteil des oben beschriebenen Männchens. Trotzdem ansprechen? Polizei rufen? Ins Einkaufszentrum rennen und einen der Securitymänner mit den albernen Fantasieuniformen suchen?
Die beiden standen jetzt zwei Meter auseinander, der Ausbruch schien vorbei, vielleicht käme ich ja doch noch davon ohne schlechtes Gewissen und ohne Einmischung davon?
Als ich auf der anderen Seite und schon fast bei ihnen war, lachten sie plötzlich gingen aufeinander zu und klopften sich auf die Schultern, während ein grinsender Mann mit großem RBB-Mikrofon in der Hand auf eine Passantin zustürmte …

Keine Ahnung, ob er die Frau rausgepickt hatte, weil sie sich getraut hatte, etwas zu dem aggressiven Mann zu sagen oder weil sie exemplarisch wegen ihrer mangelnden Zivilcourage befragt werden sollte. Ist auch egal. Ich kann mir genau den selbstgerechten, von der Welt angewiderten Ton des Off-Kommentars zumm Fernsehbeitrag vorstellen, in dem viel von sozialer Kälte und Desinteress die Rede sein wird. Ich habe solche Sachen schon oft genug im Fernsehen gesehen; besonders innovativ waren sie bei ihrem Versteckte-Kamera-Streich nun wirklich nicht.

Ich weiß leider weder, ob ich im Blickwinkel der versteckten Kamera stand, noch, wann das gesendet wurde oder wird. Vielleicht gibt es ja einen Schwenk auf mich als sozial kalten, desinteressierten Passanten – als freischaffender Künstler freue ich mich doch über jeden Fernsehauftritt!
Eher medienscheuen Personen mögen aus dieser Geschichte den Ratschlag extrahieren, sich schnell und unauffällig zu entfernen, wenn sie Zeuge einer solchen Situation werden.

(Volker Strübing)

9 Kommentare zu “Zum Umgang mit Aggression in der Öffentlichkeit

  1. hm. ich frage dann immer meine schwester, was ich machen soll. das letzte mal habe ich gefragt: darf ich den mann beschimpfen? darauf sie: nee, das mache ich selbst. – fenster runtergekurbelt und ihm ihre meinung mitgeteilt. ist natürlich einfacher, wenn Du zu zweit im auto sitzt. ist überhaupt auch einfacher, wenn Du ´ne frau bist – da erwartet ja ohnehin keiner irgendwas.

  2. Wow. Neben der gut beschriebenen Situation und der ebenso treffend beobachteten Angst vor dem Fettnäpfchen hast Du auch einen tollen Spannungsbogen eingebaut: bei dem Rückblendeneinschub zittert man förmlich dem Ausgang der eigentlichen Geschichte entgegen.

    Ich sollte endlich mal Deinen Roman lesen.

  3. Also ich hätte mir gedacht: die Olle wird schon was gemacht haben, der Typ wird schon wissen warum…
    Es gibt aber auch viel simplere Situationen, ohne Gewalt, in denen man Angst hat, sich lächerlich oder etwas falsch zu machen: Anfang des Monats, Sonnabend Mittag, die U-Bahn ist gerammelt voll, und eine Frau legt sich auf den Boden. Okay, sie ist wahrscheinlich besoffen oder auf Drogen, aber trotzdem. Ich meine auch Besoffenen wird manchmal schlecht. Ich frag die also, ob es ihr gut geht. Sie sagt, ich soll ihr Bescheid sagen, wenn Eberswalder Straße ist. Ich sage, dass ich nächste raus muss, und sie soll sich auf einen Platz setzen und nicht hier rumliegen. Und ich muss wirklich nächste raus. Alle umstehenden (und das sind eine Menge) betrachten gerade tief in sich versunken unsichtbare Details an der Decke. Circa hundert Touristen gucken angestrengt aus dem Fenster – in der U-Bahn. Und ich frage mich: was tun?
    Ich habe dann dem Fahrer Bescheid gesagt. Aber ist das dessen Job, sich um so was zu kümmern? Ich meine, hätte nicht eine von den Muttis oder den angehenden Akademikern da in dem Waggon gucken können, ob die Braut abkratzt, oder bloß mal ne Wurfpizza abstellen muss, oder mit ihr aussteigen und einen Krankenwagen anrufen mit dem Taschentelefon, oder ihr eben bloß mal Bescheid sagen, wenn Eberswalder Straße ist? Hätte ich nicht zu jemandem sagen sollen: Sie da, kümmern Sie sich um die Frau!
    Das war so ein Ding, wo ich dachte: mache ich mich lächerlich, mische ich mich da in irgendwas ein, was mich nichts angeht? Und zwar, weil alle anderen die Situation völlig ignoriert haben. Wenn alle anderen sagen würden: oh da liegt eine Frau auf dem Boden, oder in Volkers Erlebnis: oh da wird jemand geschlagen, würde man sich nicht so blöd vorkommen, wenn man sich einmischt. Ich meine, als wir Kinder waren haben wir doch auch nicht weggesehen, wenn sich auf dem Schulhof zwei gekloppt haben, sondern wir haben Kreise um die gebildet und zugesehen. Okay, zusehen macht die Sache nicht besser. Und eingreifen ist bei Gewalt riskant, klar. Aber was hält einen eigentlich davon ab, wenn man schon nicht weiß, was man tun soll, die Hände über´m Kopf zusammenzuschlagen und zu zetern: tu doch jemand was, da muss man doch was tun, wir können doch hier nicht nur so rumstehen!

  4. hallo volker,

    in ähnlichen situationen habe ich mich bisher immer eingemischt.
    blieb zwar zumeist als närrin übrig auf dem schauplatz des geschehens, aber da bin ich recht schmerzfrei.
    wenn die leute drumherum zeit haben, sich gedanken über mich und meine intelligenz zu machen, denken sie vielleicht auch darüber nach, beim nächsten mal ebenfalls den mund auf zu machen

    zudem bin ich eine ganz nette närrin und lass andre leute in der regel in ruhe, wenn sie mich nicht durch aggressives verhalten gegeneinander belästigen

    (ich beantrage hiermit eine kneipe mit raucherlaubnis und dummaggressionsverbot!!!)

    allerdings muss ich zugeben, dass ich mich nicht mehr einmische, wenn die gewalt schon über einen gewisses maß heraus ausgebrochen ist (ich erkenne das meist an blutigen nasen oder ähnlichem)

    vielleicht ist noch zu erwähnen, dass ich bisher immer, wenn ich mich in so eine „mann-frau-zankerei“ eingemischt habe, die frau sich nahezu drohend vor mir aufbaute, um ihren herzallerliebsten zu verteidigen und mich als bekloppte kuh zu titulieren (oder so was in der art)

    aber mal interessehalber:

    was hättest du denn gemacht, wenn es kein lächeln, schulterklopfen und microphongewinke gegeben hätte?

    jaja, ich weiß…. hätte…wäre…täte….

    und stralau, jaaaaaaaaaa, lies das buuuuuuuuch!!!!

    grüßle ische

  5. Sehr schöner Beitrag, besonders, da mal die Perspektive desjenigen beschrieben wurde, der nicht so recht weiss, ob und wie… denn das ist der Fall, den jeder schonmal erlebt hat.
    Die ganzen Fernsehbeiträge zu diesem Thema kotzen mich dermaßen an… ich glaube, die meisten Menschen helfen nicht aus sich heraus, sondern aus Angst vor Birgit Schrowange, die gleich aus dem Gebüsch springt.

  6. Danke für die Löbe und Eure Geschichten!

    Hallo Steffi: Das ist praktisch, wenn man so eine Schwester immer dabei hat. Überhaupt sollten alle Menschen erst ihre Schwestern um Erlaubnis biten, bevor sie jemanden beschimpfen!

    Hallo Stralau: Ja, unbedingt mein Buch lesen, ein ganz tolles Buch, das sagen sogar meine Mutter und Jörg Thadeusz, obwohl beide es nicht gelesen haben ;)

    Tach,Andreas: Komischerweise ist mir beim Schreiben gar nicht aufgefallen, dass man, wenn man eine Person sieht, die irgendwo rumliegt, die selbe Situation hat – sogar noch ein bisschen „reiner“, weil nur die Angst vor einem sozialen Fehltritt da ist und man sich keine Sorgen um ein blaues Auge oder ein Messer im Bauch macht.
    Erinnerste dich an den Typen von heute Nachmittag, als wir uns zufällig getroffen haben? Der dir gesagt hat, dass dein Sohn einen Schuh verloren hat? Hoffentlich hat unser „Ja, das wissen wir, den suchen wir gerade, danke“ so nett geklungen, dass er auch beim nächsten Mal Bescheid sagt …

    Hallo Ische: „die frau sich nahezu drohend vor mir aufbaute, um ihren herzallerliebsten zu verteidigen und mich als bekloppte kuh zu titulieren (oder so was in der art)“ – Respekt, wenn Dir trotzdem nicht die Lust am Einmischen vergangen ist!

    Was ich getan hätte, wenn es nicht diese Wendung gegeben hätte? Ehrlich, ich weiß es nict genau, ich war noch unschlüssig. Ich hoffe mal, ich hätte irgendwas gemacht, aber hundertprozentig garantieren kann ich es natürlich auch nicht. Das schnellste und beste wäre wahrscheinlich gewesen, einen anderen Passanten anzusprechen und mit dem zusammen hinzugehen.

  7. tja,sowas kennen wohl die meisten
    , weil sie`s schon irgendwann erlebt haben, das zaudern, zögern, abwarten, abwägen….
    so beiträge könnten wohl die meisten schreiben. tun`s aber nicht. warum wohl?
    gruß aus wien
    francesco

  8. Pingback: Schnipsel vom 6.4.2009 « Schnipselfriedhof

  9. Also diese Angst vor einem Fettnäpchen hab ich nie. Bloß die Angst eine verpasst zu bekommen. Aber das lässt sich immer gut überwinden und ich greife immer ein wenns mir notwendig erscheint.

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