Der innere Emmerich

Mein Rekord sind 90 Minuten. Na gut: 88 Minuten. Gestern Nachmittag habe ich ihn aufgestellt. Ich saß an meinem Schreibtisch, vor mir die Tastatur, dahinter ein großer Pott Tee und ein aufgeschlagenes Heft mit handschriftlichem Text, den ich abtippen wollte, und es gelang mir tatsächlich volle 88 Minuten hindurch konzentriert an meinem Computer zu arbeiten, ohne auch nur einmal den Browser zu starten und die neuesten Nachrichten aus Japan zu lesen!

Nach fast anderthalb Stunden wurde es aber wirklich Zeit, die Arbeit zu unterbrechen und mich katastrophenmäßig auf den aktuellen Stand zu bringen. Spiegel Online hatte wenig Neues zu berichten, obwohl doch soviel Zeit vergangen war. Auch auf sueddeutsche.de war nichts Spektakuläres zu finden. Enttäuscht drehte ich mich mit meinem Stuhl in Richtung Fernseher, nun alle Hoffnung auf ARD und ZDF richtend, doch auch die hatten keine neue Schreckensnachrichten zu bieten. Nur ein Upgrade der Opferzahlen und die Meldung, dass jetzt auch in Block sowieso eine Kernschmelze drohe – ich wusste schon nicht einmal mehr, ob es noch der selbe war wie 90 Minuten zuvor oder ob ein neuer dazugekommen war. Und waren wir nicht am Sonnabend schon mal einen ganzen Schritt weiter gewesen, hieß es da nicht schon, dass die Kernschmelze in Gang sei?

Die Nachrichtenlage war also alles andere als befriedigend. Dafür hatte ich nun meine Arbeit unterbrochen! Wenn es wenigstens noch eine weitere Wasserstoffexplosion gegeben hätte, aber nein, auf die musste ich bis heute Morgen beim Frühstück warten. Missmutig griff ich nach dem letzten Strohhalm und zappte weiter, tief hinein in die Niederungen des Journalismus, zu zwei sogenannten Nachrichtensendern. Auf einem der beiden blubberte eine unfassbar unsympathische Frau, die man offenbar direkt von QVC wegengagiert hatte, irgendwas vom „Super Gau“ während am unteren Bildschirmrand die Schlagzeilen prangten: „Atomkatastrophe in Japan. Schon 6000 Tote.“ – als hätte ein Strahlentsunami die Küstenorte hinweggespült. Auf dem anderen Sender sagte ein Sprecher: „Immer wieder erreichen uns neue Amateuraufnahmen von der Katastrophe, die wir Ihnen natürlich nicht vorenthalten.“ Ich setzte mich auf, der Sender fuhr die MAZ ab: Eine schwarze Flutwelle strömt in ein Hafenbecken, spült Autos vom Kai, zerknorkelt Schiffe unter einer Brücke, schwemmt ganze Häuser davon …

Ungläubig, schockiert, ensetzt, fassungslos, die Hände um die Lehnen meines Drehstuhls geklammert starrte ich auf den Fernsehschirm: Das war dreister Betrug! Diese angeblich neuen Bilder hatte ich schon mindestens ein Dutzendmal gesehen! Die glaubten wohl, sie könnten mich verarschen! Ich schaltete auf den ersten Kanal zurück, doch auch dort zeigten sie jetzt dieselben alten Aufnahmen, nur dass sie sie mit trauriger Pianomusik untermalt hatten und gelegentlich einen Teddy im Matsch und eine explodierende Reaktorhülle dazwischen schnitten. Herrjeh, aus dem technikverliebten Japan musste es doch genug atemberaubendes Handyvideomaterial geben, warum speisten die uns mit den immer selben Bildern ab?!

Räusper.

Vielleicht habe ich oben ein bisschen übertrieben, aber ich muss wohl zugeben, dass ich ein Katastrophenjunkie bin. Ein Teil von mir ist nicht betroffen, sondern angefixt, ein Teil hat kein Mitleid, sondern will mehr sehen. Ein Teil wird enttäuscht sein, wenn die ganz große Katastrophe ausbleibt und die piefige deutsche Innenpolitik wieder die Nachrichten bestimmt.

Klar, einem anderen teil von mir ist das zuwider, einem Teil der hervorkommt, wenn sie statt der coolen Action-Bilder vom Tsunami Menschen zeigen, die weinend in einer Trümmerlandschaft stehen und nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind und ob sie noch leben. Als 2008 das schwere Erdbeben in China mehrere Städte verwüstete, war ich gerade in Tsingdao (also weit weg vom Erdbebengebiet) und auch damals hat sich mein innerer Emmerich über die spannenden News, die spektakulären Aufnahmen zerstörter Städte … ich will nicht sagen: gefreut, aber angesprochen fühlte er sich schon. Dennoch waren die Bilder von Müttern, die vor zusammengebrochenen Schulen nach ihren Kindern schrieen, unerträglich. Und als ich am nächsten Morgen auf dem Bahnhof von Tsingdao einen Mann telefonieren und dann heulend zusammenbrechen sah, hätte ich ihn am liebsten in den Arm genommen und mit ihm geheult.

Was will uns dieser Text sagen? Dass ich ein kaltschnäuziger abgestumpfter Zyniker bin viellleicht, aber immerhin ein kaltschnäuziger, abgestumpfter Zyniker mit Herz. Keine Ahnung. Und mir fehlt leider die Zeit, jetzt nach einer „Moral von der Geschicht“ zu suchen – ich habe jetzt 113 Minutren an diesem Text geschrieben – neuer Rekord! – es wird wirklich höchste Eisenbahn, den Katastrophen-Live-Ticker auf Spiegel Online zu checken …




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(VS)

38 Kommentare zu “Der innere Emmerich

  1. Ich glaube, das kommt, weil das Internet noch neu ist. Haushohe Tsunamiwellen und Explosionen kennen wir piefigen WesteuropäerInnen nunmal nicht so. Aber mit den Jahrzehnten werden Tsunamis, Erdbeben und Atomkatastrophen bestimmt ganz normal in unserer Bilderflut. Dann ist da nur die ganz normale Betroffenheit, die auch ohne Großaufnahme von Teddys funktionieren könnte.
    Andererseits glaub ich, dass die Faszination des Schrecklichen irgendwas Evolutionäres sein muss. Vielleicht damit wir neugierig angelaufen kommen und helfen? Faszinierend ist sowas ja höchstens aus der räumlichen und emotionalen Distanz. Von Nahem würde sich das Gefühl ganz schnell auflösen in Panik und gemeinsames Weinen.

  2. …dazu kommt natürlich, dass man gerne die Betonköpfe in diesem Land eigehändig in einen Reaktor stoßen möchte. Wieviele Atomkraftwerke müssen denn noch explodieren, bis Merkel das ignorante Grinsen vergeht?

  3. Dieses emmerichsche Gefühl hatte ich erstmals, als ich am 11. September den ganzen Tag vor der Glotze saß – Werbepausen nutzend, um auf´s Klo zu gehen oder was zu Essen und Trinken zu holen. Ich weiß heute noch nicht, was das war: Faszination? Sensationsgeilheit? Nicht glauben können oder wollen? Ich war Zuschauerin, irgendwie angefixt… Zu wissen, dass es real ist, hilft nicht, um zu verstehen.

  4. Erstmal: Auf jeden Fall „mit Herz“, sonst würdest Du Dir darüber keine Gedanken machen.

    Ich gebe zu – am ersten Tag wollte ich auch alles wissen. Natürlich habe ich mich damit herausgeredet, dass es damit zusammenhängt, dass ich Verwandte auf Hawaii habe und die ja evtl. auch von der Tsunami-Welle bedroht werden undundund … aber eigentlich wollte ich wohl in erster Linie entsetzt sein. So Autounfall-mäßig, da guckt man ja auch automatisch hin.
    Nachdem CNN und Co. aber eigentlich nur permanent diese Frau gezeigt haben, die im obersten Stock ihres Hauses mit einem weißen Stück Stoff nach Hilfe wunk (wank? winkte?), war ich von meinem eigenen Voyorismus ziemlich angewiedert.

    Zu viele Informationen prasseln auf mich ein, gerade über das Internet kommen ständig irgendwelche Halbwahrheiten und am Samstag war dann mein persönlicher GAU (darf ich das so sagen?), dass sowas kam wie „die Tausende von Toten der Atomkatastrophe“. WTF? War da nicht ein Erdbeben, gepaart mit einer großen Welle?

    Und ab da wurde es für mich immer schlimmer – es ging nicht mehr um die Toten in Japan, sondern um die großen Gefahren, die in und für Deutschland lauern. Wir, wir, wir. Ich, ich, ich. Auch hier in den Kommentaren geht es gleich los: Die Merkel, die Merkel, die Merkel. Ich hab mir gewünscht, dass zumindest am letzten Wochenende ein kleines Innehalten stattfindet, eine Atem- und Gedenkpause für die Opfer, bevor am Montag natürlich der politische Alltag (=Dauerwahlkampf) wieder losgeht, aber nein, ich wurde per Twitter, social media sei dank, gleich von Berufspolitiker Herrn Stegner persönlich angepampt für diesen Wunsch.

    Hm, ich bin neugierig. Will eigentlich immer alles wissen. Aber bei den Katastrophenbildern mag ich nicht mehr. Ich hoffe, es ist nicht einfach nur Übersättigung.

  5. Danke – endlich sagt’s mal einer. Mir geht’s da genauso – und bestimmt geht’s den meisten so. Nur ist es die Ausnahme, so schonungslos reflektiert darüber zu schreiben.

  6. Ich bin durchaus auch Newsjunkie, aber gerade wird es mir zuviel. Ich glaube unsere kulturelle Konstitution ist für sowas nicht wirklich ausgelegt. Einerseits unglaubliches Leid zu sehen dass aber andererseits komplett abstrakt bleibt. So weit weg wie irgendwie und gleichzeitig so nah wie irgendwie möglich.

    Dass man jetzt alles dafür tut, dass zumindest der kulturell verursachte Teil der Katastrophe nicht wieder passiert, finde ich allerdings nicht zynisch, sondern notwendig und versuche deswegen so viel Energie wie möglich aus der Schockstarre zu lösen und in Dinge wie diese hier zu stecken: http://sofort-abschalten.de/ Mag sein, dass das auch eine Form der Verdrängung ist, aber dann eine, die jetzt für mich nötig ist.

  7. Die piefige innerdeutsche Katastrophennachrichtenwelt hat eben nur Biblis zu bieten.

    Ich bin ja kein Freund dieser „danke für diesen Artikel“-Rufe. Aber jetzt fühl ich mich doch gut getroffen. Danke für diesen dings.

  8. Ich geh mal davon aus, dass in jedem von uns ein kleiner, katastrophengeiler Junkie steckt. Denn wenn nicht, würden die Medien bestimmt nicht die ganzen Vorfälle so auspressen. Wer sagt, ihn interessiere es nicht, der lügt. Einschaltquoten beweisen das Gegenteil.
    Egal ob Interesse oder Mitgefühl, am Schluss sind solche Katastrophen zur Unterhaltung da, resp. werden uns zur Unterhaltung angeboten.

  9. Sinngemäß selbiges habe ich auch grad woanders geschrieben und mich innerlich gefragt, wie viele andere darüber genauso denken. Daumen hoch kann ich nicht so richtig sagen, ausser für die Aufrichtigkeit, aber angesichts meiner eigenen Gefühlswelt versuche ich mich grad selbst erfolglos zu schämen.
    Der innere Emmerich ist übrigens das tollste Wortspiel das ich seit langem gelesen habe.

  10. „Egal ob Interesse oder Mitgefühl, am Schluss sind solche Katastrophen zur Unterhaltung da, resp. werden uns zur Unterhaltung angeboten.“

    Schrecklich. Aber wahr.

  11. Wie es der Zufall so wollte, habe ich den Post hier heute gelesen und stolperte wenig später über „Vicarious“ von Tool. Ich zitiere mal drei Zeilen:

    „Cause I need to watch things die… from a distance
    Vicariously I live while the whole world dies
    You all need it too, don’t lie“

    Der Text befasst sich im Grunde mit eben diesem Phänomen. :-)

  12. Danke, sehr guter Artikel und vorallem sehr ehrlich geschrieben.
    Ich finde „angefixt“ trifft es sehr gut. Es ist irgendwie wie eine Droge. Jedenfalls mir geht es auch so, einerseits bin ich von den Bildern entsetzt, will es garnicht warhaben und hoffe und bete, das es nicht noch schlimmer kommt als es eh schon ist, aber andererseits hab ich dann doch gleich morgens den Laptop gestartet um zu sehen, was ich in der Nacht „verpasst“ habe. Ich glaube heute war der erste Tag, andem ich erstmal nicht mehr gedacht habe: „Oh Gott, was denn noch, hört das denn garnicht mehr auf? Ist denn Japan nicht schon schlimm genug getroffen?“

    Ich denke mal, dass diese „Sensationsgeilheit“ im Ursprung was natürliches ist, man will sich erkundigen wie es anderen geht um diesen vielleicht zu helfen und um die Folgen für sich selbst abschätzen zu können. In früheren Zeiten (also etliche Jahrtausende vorher) waren die Betroffenen von solchen Ereignissen ja eher in unmittelbarer Nähe und somit konnte man eher helfen bzw. hätten Folgen einen unmittelbar betreffen können.

  13. Was sagt uns dieser Text?

    Das hier mal jemand ehrlich ausspricht, wie er fühlt.

    Und egal, wie wohlfeil wir alle gegen Sensationsgeilheit andiskutieren: Menschen sind so. Punkt.

  14. Der Liveticker ist der Geigerzähler der Sensationen, statt in Sievert wird eben in Tweet gemessen. Die Frage ist nur, ab welchem Grenzwert Tweets gesundheitsschädlich wirken…

  15. Tsunami, Kernschmelze und lybischer Bürgerkrieg schön und gut, aber was ist denn nun eigentlich mit der Dr. zu Guttenberg Facebookgruppe geworden? Das sind doch die Dinge, die die Leute eigentlich interessieren. Diese Katastrophen überdecken die wirklich interessanten Dinge.

  16. Ich habe in Bezug auf die zur Verfügung stehende Informationsflut auch ständig das Gefühl, dass ich irgendetwas verpassen könnte. Zum Kotzen ist das.
    :-/

  17. Deine Empathie-Fähigkeit hat eindeutig Defizite, aber ein ehrlicher Umgang damit ist immerhin der erste Schritt zur Besserung.

    Ich habe Weinkrämpfe bekommen als ich die erste Explosion in Fukushima gesehen und das erste Mal das Wort Kernschmelze gelesen habe, weil ich durchaus eine Ahnung habe, was das bedeutet.

    Mein Problem waren eher – wenngleich völlig berechtigte – Wutattacken als ich noch schockiert und betroffen diese eiskalte Berechnung und Skrupellosigkeit von Angela Merkel gesehen habe, mit der sie sofort auf Wahlkampf umgeschaltet hat, anstatt ihren Rücktritt zu erklären, nachdem sie seit Kohl sie 1994 zu seiner Bundesumweltministerin gemacht hat, die schlimmste Interessenvertreterin der Atomindustrie seit Franz-Josef Strauß war und dafür offensichtlich bewußt mit Leben und Gesundheit der Bevölkerung gespielt hat, denn sonst hätte sie nicht so schnell ihr sogenanntes Moratorium aus dem Ärmel ziehen können, um sich damit über die nächsten drei Landtagswahlen zu retten.

    Robert de Niro hat in „Machete“ lustvoll eine George-W-Bush-Parodie gespielt, der am Ende versehentlich gejagt von seinen eigenen Leuten im Elektrozaun geendet ist. Klasse Film! Falls also Veronika Ferres sich nochmal von ihrem Drücker-König emanzipieren will, soll sie halt eine Merkel-Kopie spielen, die mit ihrem Hosenanzug am Brennstab hängenbleibt und im Abklingbecken verdampft. Dann wäre die GEZ ihr Geld auch mal wert…

  18. @Gina: Die Tweets haben sich schon lange selbstständig gemacht, darunter versteht man jetzt all diese kleinsten anzunehmenden Nachrichtenfragmente, die in geringen Variationen, aber dafür in Massen auftauchen. Also kein Informationsfluss, sondern ein Dauerregen. Ein strukturloses Prasseln, zum Verrücktwerden.

  19. Bin ich der einzige, den die einseitige Berichterstattung zum Thema Atomausstieg anekelt? Bevor ich hier virtuell gelyncht werde: Auch ich halte eine Zukunft ohne Atomkraft für erstrebenswert und sehne die Zeit herbei, in der wir die Ressourcen effizient nutzen, die uns eine Energiegewinnung ohne schädlichen Eingriff in unsere Umwelt und Sicherheit ermöglichen. Aber warum ist keiner in den Medien in der Lage, nüchtern und informativ unsere Situation zu schildern. Fakt ist doch, dass wir derzeit keine Möglichkeit haben unseren Strombedarf zu stillen, ohne damit unserer Umwelt zu schaden. Schalten wir die Atomkraftwerke aus, können zwei Dinge passieren. Entweder bauen wir Kohlekraftwerke oder wir importieren den Strom aus dem Ausland. Ersteres muss ich gar nicht weiter kommentieren – die langfristigen Folgen sollten klar sein. Was den Import aus dem Ausland angeht, da sind steigende Strompreise die geringste Sorge die ich habe. Importiert Deutschland den Strom aus Frankreich (ich hätte hier auch Belgien, …. schreiben können), muss Frankreich seine Kapazitäten erhöhen. Und da die Franzosen das Atom lieben, bauen sie weitere Kraftwerke. Deutschland ist ein guter Kunde, immerhin boomt die Wirtschaft. Wir haben dann die Kraftwerke nicht mehr im Haus, sondern direkt vor der Haustür. Wir können nicht einmal ein gutes Gewissen haben, denn was aus unserer Dose kommt hat auch weiterhin zur Folge, dass irgendwo ausgemusterte Brennstäbe vor sich hin strahlen. Wir motivieren auch niemanden durch unseren Ausstieg, uns zu folgen Schließlich hat man uns als Kunden gewonnen und das bringt gutes Geld in witschaftlich schweren Zeiten. Der einzige Unterschied zur aktuellen Situation ist, dass wir keinen Einfluss mehr darauf haben, wie die Kraftwerke vor unserer Haustür geführt werden und keine Möglichkeit, bei Defiziten Druck auszuüben.

    Was ist bitte grün daran, wenn wir unser Gewissen damit besänftigen, indem wir unseren Dreck vor die Tür unserer Nachbarn kehren? Auch auf die immer noch befürchtete Gefahr hin, hier verflucht zu werden: Ich habe lieber die Kraftwerke im eigenen Land und die Option die Gewinne dieser in die Entwicklung umweltfreundlicher Energiequellen zu stecken (bei voller Kontrolle über die Rahmenbedingungen, unter der die Kraftwerke betrieben werden) als dass ich mit meinem Geld die Atomkraftwerke in Frankreich (o.ä.) finanziere. Zwar zwingt dieser Ausstieg die Erzeuger zu investieren … aber wer garantiert mir denn, dass sie dies nicht im Ausland tun?

    Das ganze Problem mit den Atomkraftwerken und der Sicherheit ist derart komplex, dass es weder klug ist zu sagen: „wir haben keine Alternative und lassen erstmal alles so wie es ist“ noch zu fordern, dass unverzüglich alle Werke abgeschaltet werden. Auch wenn eine 3 monatige Bedenkzeit indirekt vermittelt, dass man vorher nicht nachgedacht hat, so ist sie mir doch lieber als Schnellschüsse. Eben weil es sich hier um eine komplexe Problemstellung handelt.

    Es ist schon ziemlich seltsam, den Atomausstieg anzuzweifeln, während am anderen Ende der Welt 50 Helden ihr Leben riskieren um eine Katastrophe zu verhindern. Jeder Tag, den man sinnlos verstreichen lässt, um mit einer Gelddruckmaschine wie Atomenergie seine goldene Nase zu verdienen ist zu viel. Doch braucht man einen Zeitplan, kluge Köpfe und die Motivation, etwas zu ändern – und nicht einen Schnellschuss, der zwar Wähler bringt, am eigentlichen Problem aber nichts ändert. Warum nutzt man diese Gelddruckmaschine nicht um ein höheres Ziel zu erreichen? Das nicht durchgesetzt zu haben ist der größte Fehler unserer Regierung und dafür werden auch bei den nächsten Wahlen zurecht bestraft. Aber nach der „einfachsten Lösung“ (die keine wirkliche Lösung ist) zu brüllen und weil das Publikum diese am ehesten versteht und akzeptiert ist doch ebenfalls ein Fehler.

    Wie auch immer – eine neutrale und sachliche Diskussion zum Thema fehlt mir in den Medien. Ich höre nur „ganz Deutschland will den Ausstieg“. Man setzt in Diskussionen einen Chef von RWE und einen Umweltaktivisten zusammen und suggeriert dem Zuschauer, dass es ein Kampf zwischen „Gut und Böse“ ist und erstickt damit jeden Ansatz von Zweifel … wer will schon gern zu den Bösen gehören?

    Wenn man keine Wahl hat, muss man das Beste draus machen und sich aus der Situation herausbringen – und das gelingt im Moment niemanden in diesem Land. Hier herrscht das Motto: Warme Luft mit erhobenen Zeigefinger.

    @Dirk Burchard: Fairness halber muss man ergänzen, dass sämtliche Parteien dieses Unglück zu Wahlkampfzwecken nutzen. Die einen nutzen die Angst der Menschen um Stimmen zu gewinnen und die anderen schinden Zeit, um politisch zu überleben. Die Schweigeminute für die Opfer (in Berlin) hielt keine 30 Sekunden bis der Anti-Atom-Wahlkampf wieder los ging. Ich finde derzeit alle politischen Instanzen widerlich und mag daher keine einseitigen Kritiken.

  20. Ich muß ja auch zugeben, dass ich z.B. am 11.09.2001 auch zu Emmerichs Zielgruppe gehörte. Und ich bin auch eine von denen, die genau weiß, was war, als ich davon erfur: ich telefonierte nämlich gerade mit unserem Vertreter in NY.
    Und der Tsunami in Thailand… ja, da hab ich auch mehr mit Erstaunen zugesehen, was Wasser anrichten kann.

    In Japan geht es mir ganz anders: Das Erdbeben und der Tsunami sind natürlich in meinem Kopf. Schließlich sieht man ja Nachrichten. Aber die Atom-Katastrophe löst in mir eine totale Endzeitstimmung aus: was machen diese Leute, wenn es wirklich passiert? Wenn ein großer Teil Japans atomar verseucht ist und noch in 50 Jahren aussieht, wie Tchernobyl heute?
    Und ich werde wütend: in den 80ern bin ich als 15jährige für sowas auf die Straße gegangen: man hat versucht, den Leuten klar zu machen, was Atomkraft bewirken kann. Das war aber sehr weit weg… natürlich gab es die Öko-Spinner, die versucht haben, zu warnen. Und was war? Nix war… heute sieht man in deutsche Gesichter, die viel älter sind als ich (die das also auch alles erlebt haben, die ganzen Diskussionen und Demonstrationen) und da wird ganz erstaunt getan: upsi, Strom kommt ja doch nicht nur aus der Steckdose…
    Ich bin mal gepannt, wie schnell die Deutschen vergessen (wieder mal), wenn Japan nicht mehr täglich in den Nachrichten ist und evtl in 3 Monaten das Moratorium damit endet, dass heraus gestellt wird, wie sicher wir sind und dass wir eigenltich viel mehr AKW brauchen. ;) Aber ich lasse mich natürlich sehr gerne vom Gegenteil überzeugen!

    Deshalb berühren mich die Bilder aus Japan: ich denke immerzu daran, was der Unterschied ist zwischen dem Wiederaufbau nach einem Erdbeben oder Tsunami und dem, was den Japanern bevor steht, wenn es wirklich zum Schlimmsten kommt. Und das will ich eigentlich gar nicht sehen.

  21. Zunächst muss ich zugeben, mich erschrecken die Ergebnisse deiner Umfrage unglaublich:

    – Ich will sowas nicht sehen und sowas sollte nicht passieren! 17.29% (79 votes)
    – Ich weiß, dass ist scheiße aber: Ich guck gerne Tsunamis. Tsumindest im Fernsehen. 26.04% (119 votes)
    – Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. 56.67% (259 votes)

    Über 80% deiner Leser_innen zeigen also wenig bis gar keine Anteilnahme an dieser Katastrophe – das muss mensch sich mal vorstellen!! :( Und dennoch bin ich – auch im Hinblick auf die ganzen live übertragenen Katastrophen in den letzten Jahren – keineswegs überrascht von dieser Tatsache, und das stimmt mich eigentlich viel nachdenklicher. Und traurig!

    Es ist ja beinahe schon so, als müssten die Medien „verlassene Teddybären in Nahaufnahme“ zeigen, damit die Zuschauer_innen noch so etwas wie innere Anteilnahme spüren können. Viele von uns sind im „digitalen Zeitalter“ doch inzwischen total reizüberflutet und abgestumpft, was solche Bilder angeht, da sie uns fast wöchentlich von irgendwo auf der Welt erreichen – und viele (Sascha Lobo, du…) warten eigentlich nur darauf, dass noch was „Krasseres“ passiert und wollen ja nichts verpassen. Das fängt beim Autounfall auf der Straße an und hört ganz offenbar auch nicht bei einer drohenden Kernschmelze auf.

    Und auch wenn ich diese „Schaulustigkeit“ für mich selbst nicht im geringsten Maße nachvollziehen kann (nicht nur, weil ich selbst beim Erdbeben dabei war und auch noch immer wichtige Menschen in Tokio habe), bin ich entsetzt, diese Einstellung dennoch irgendwie verstehen zu können. :(

    Ich frage mich, wo uns das in dieser Welt noch einmal hinführen wird…

  22. Pingback: Kollateraldachschaden |

  23. Nein, Daniel, Merkel hat den Atom-Wahlkampf eröffnet. Selbst Gabriel, der ja nun auch von der poltrigen Sorte ist, wollte sich erstmal um Japan kümmern, und das wäre auch angebrachter gewesen, als nahzu vollkommen leere Hände in ein „Moratorium“ umzulügen. Und jetzt komm mir bitte nicht mit Fingerzeigen auf irgendwelche Mahnwachen oder Menschenketten, die schon vor dem Unfall geplant waren als Reaktion auf Mappus Atomlobbyismus inklusive Kauf von EnBW.

    Was allerdings diese 50 Helden angeht, die in Fukushima den Super-GAU zu verhindern suchen, sind das selbstverständlich Menschen, die meinen Respekt haben, aber ich kann mich auch erinnern, wie ich damals Fernsehaufnahmen von Hubschraubern gesehen habe, aus denen Beton in den offenen Reaktor von Tschernobyl geworfen wurde. Damals habe ich mich durchaus noch etwas jung und naiv gefragt, wie diese Menschen eigentlich vor der Strahlung geschützt werden. Heute weiß ich: Gar nicht, die Sowjets haben diese Menschen bewußt verheizt, und genau so etwas läßt sich mit alternativen Energiequellen und Verzicht auf Atomkraft auch vermeiden. Daher tust Du mir durchaus ein bißchen leid, daß Du diese Propaganda der Atomindustrie geglaubt hast, denn ich beziehe seit vielen Jahren echten ökoStrom entsprechend http://www.atomausstieg-selber-machen.de und weiß schon sehr lange, daß das Unsinn ist, was Du schreibst.

  24. Wenn mir dieser Daniel hier mit Falschbehauptungen fehlende Fairness vorwerfen darf und meine Richtigstellung gelöscht wird, dann möchte ich eigentlich, daß hier alle Beiträge von mir gelöscht werden und auch jener von Daniel. Wenn schon Zensur in Online-Foren, dann bitte ausgewogen. Danke.

  25. Zum Artikel (ohne jeglichen Kommentar dazu gelesen zu haben, bin auf dem Weg ins Wochenende): Geht mir 100% genauso – geradezu lächerlich identisch ‚genau so‘; und genauso reflektiere und beobachte ich mein Inneres mit wachsendem Unwohlsein und Ekel vor mir selbst. Warum ist das so? Was hat uns so gemacht?

    Danke für diesen Blogpost – ich bin doch nicht allein.

  26. Ich bin nicht allein! Wie erfreulich! vielleicht. Mr. Hyde war schon beinahe richtiggehend traurig, dass es offenbar gar kein China-Syndrom gibt. Tatsächlich war diese Erkenntnis aber ein wenig der Wendepunkt seiner bedauernswerten Geschichte;). Er befindet sich im Moment auf dem Rückzug. Seine Vorliebe für Action hat er dennoch nicht verloren.
    Das muss zumindest anfangs irgendwie auch ein wenig die Lust am unbekannten sein, von dem man einfach wissen will, wie sowas eigentlich aussieht (ich hab z.b. erst als ich mal bei youtube videos vom tsunami 2004 gesehen habe vestanden, dass sich ein Tsunami gar nicht unbedingt nur durch seine höhe auszeichnet – wie in Sendungen irgendwie meist vor allem betont zu werden scheint – sondern vor allem durch seine länge). Wenn man dann erstmal gesehen hat, wie sowas spektakuläres , was man im echten Leben noch nie gesehen hat aussieht (gilt auch für sachen wie Vulkanausbrüche, Erdrutsche, Killerwaves, whatever, ja, auch Schiffsunglücke oder Hubschraubeabstürze) ist man – oder jedenfalls ich – einfach von diesem Gefühl des Undenkbarseins, was man da sieht, beeindruckt und wer für sowas empfänglich ist, will dieses Gefühl dann gerne noch öfter haben. Das ist wirkliche anfixen. Und das ist irgendwie auch pervers, scheints.

    PS: im sorry, es wäre so viel an kommentaren zu lesen gewesen, dass ich nicht ungerecht erscheinen wollte und gar keinen gelesen hab bevor ich schrieb *g* ;)

  27. Pingback: Dampf ablassen! « Puzzlestücke

  28. Hallo Dirk, ich habe nichts gelöscht! Dein Kommentar ist im Spamverdacht von WordPress hängengeblieben (passiert wohl immer, wenn mehr als ein Link drin ist) und ich war unterwegs und konnte ihn erst jetzt freischalten …

  29. @Dirk Burchard: Wo waren denn bitte Falschbehauptungen? Ich sehe keine Richtigstellung in deinem (wieder aufgetauchten) Beitrag. Ich halte Aussagen wie „Die Kraftwerke müssen auf der Stelle abgeschaltet werden, da ein derartiges Ereignis in Deutschland nicht auszuschließen ist“ für Wahlkampf auf Kosten der Angst der Bürger. Und genau derartige Aussagen kamen von Beck, Roth, Gabriel, … dies einfach unter den Tisch fallen zu lassen und allein auf die Regierung oder Kanzlerin zu schimpfen hielt (und halte) ich für einseitig und unfair. Und Deine Begründung „die hat aber angefangen“ macht meine Anmerkung nicht falsch. Auch habe ich nie über Menschenketten geredet sondern über eine Schweigeminute für die Opfer der Katastrophe – wäre diese bereits langer geplant gewesen, hätte es mich geschüttelt vor Angst. Und schließlich: mit Deinem Ökostromzuschlag beschleunigst Du den Ausbau der alternativen Energieerzeugung und das ist vorbildlich. Ich habe allerdings von der Übergangszeit geredet und die Frage gestellt, ob ein schneller Ausstieg die richtige und grüne Alternative ist, wenn er entweder auf kosten des CO2 Ausstoßes geht oder die Atomstromgewinnung ins Ausland verlagert. Das alles unter dem Gesichtspunkt, dass mir genau diese Fragen in den Medien und der Öffentlichkeit zu einseitig diskutiert wird. Also komm mal wieder runter – musst nicht in jedem Beitrag einen Angriff gegen Dich und Dein Weltbild sehen.

    / „Dieser Daniel“

  30. ich hätte nie gedacht, mich mal schwarz auf weiß verstanden zu fühlen … schlimm eigentlich. ich mag weder tsunamis noch atom-gaus, aber irgendeine tiefe innere lust an bildern von gewaltigen wassermassen, riesigen bränden, unaufhaltsamen, alles vernichtenden windhosen … kann ich kaum leugnen.

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